RAHEL VON WROBLEWSKY

Das Versehen

 

Es war still, die Sonne fiel schmal über die Wiesen, der Tag hatte noch nicht begonnen, es war diese frühe Stille, die vor den Fenstern liegt, während in den Häusern die Frauen schon den Herd geheizt und die erste Milch gekocht haben, die Stille, bevor sie hinaustreten, den Rücken durchbiegen und nach den Hühnern sehn. Doch plötzlich, in diese Stille hinein, vernahm man ein Geräusch, ein Knirschen von Sand, der unter Stiefeln wegstiebt, unter schweren Stiefeln, und das Geräusch kam vom Weg her, der auf den Hof führte, über die Wiesen hinweg, und nach und nach tauchten sie hinter dem Hügel auf: ein Trupp Männer, die Schultern zusammengezogen, fröstelnd, und ein früher Sonnenstrahl verfing sich in den Knöpfen ihrer Mäntel, es waren Uniformmäntel, und sie kamen den Weg hinauf, die Gewehre geschultert, die Schritte schwer. Jetzt waren sie am Tor, sie schoben die rostigen Riegel zurück, und noch immer war es still, wenige Minuten nur, bis Fäuste gegen die Tür schlugen, und die Tür gab nach, brüchiges splitterndes Holz, und zwei von ihnen verschwanden im Haus und kehrten zurück, einen Mann zwischen sich, sie hielten ihn an den Armen, und der Mann sträubte sich wild, und sein Hemd, an dem sie ihn hielten, riss, nah am Hals, und darunter war feste braune Haut, sie zerrten ihn über den Hof, vor das Tor, legten ihm einen Strick um den Hals und sahen in den Baum hinauf, und der Baum war eine Eiche, knorrig und stark, und hinter ihnen, auf dem Hof, standen die Männer, schweigend, und wandten sich ab vom Baum, betrachteten die Familie, die, im Schatten des Hauses, bewegungslos stand, ein Mann, eine Frau und die Kinder, und die Frau ging in die Knie, schlug ein Kreuz über die Brust, führte die Hände zu Gott, aber Gott half nicht, Gott hatte sich abgewandt, wie diese Männer, schweigend, und es war still, nur die Frau hockte am Boden, die Hände gefaltet, und in dem Baum bewegten sich leise die Blätter vom Wind. (…)

 

veröffentlicht in: TEMPERAMENTE, Heft 3/1989

 

 

Der Fremde

 

Sie traf ihn an einem Morgen, einem grauen Morgen, sie hatte sich nicht waschen können, denn das Wasser in ihrem Haus war versiegt, bevor sie noch aufgestanden war, nur kleine rostige Tropfen rannen aus dem Wasserhahn, als sie müde in die Küche trat, sie hatte es nicht verstanden, sie kannte den Grund nicht dafür, aber es war schon öfter geschehen und deshalb hatte sie nicht lange darüber nachgedacht, sie hatte den Wasserhahn zugedreht, sich angezogen und war in die Kneipe an der Ecke gegangen, um ein Frühstück zu bestellen, lange saß sie in dem dunklen Raum und musste auf die Kellnerin warten, die im Hinterzimmer etwas zu suchen schien (...)

 

veröffentlicht in: Die Lehre der Fremde. Die Leere des Fremden. Texte zum 2.Würth Literaturpreis, Konkursbuchverlag, 1997

 

 

Der Mann

 

Als sie ihn verließ, fällte er einen Baum. Keinen schönen Baum, keinen besonders starken oder dicken, irgendeinen Baum inmitten des Waldes, einen Baum, der eben groß genug war, daß er ihn fällen konnte, und einen ganzen Tag lang schlug er auf ihn ein, hieb eine Axt in seinen zitternden Stamm, wieder und wieder hob er das Werkzeug in seinen Hän­den und schlug zu, wischte sich den Schweiß von der Stirn, zog sich das Hemd über seinen schwitzenden Leib und warf es hinter sich ins Gras, hielt für einen Moment im Schlagen inne und betrachtete den geraden glatten Stamm, der noch im­mer aufrecht stand, bevor er von neuem begann, die Schläge hallten durch den Wald, laut und dumpf, aber es störte ihn nicht, er dachte nicht darüber nach, dachte nicht an den Förster, der vorbeikommen könnte, an die Waldarbeiter oder die Wanderer, von den Schlägen angelockt, und es wäre mög­lich, daß sie ihn zur Rede stellten, die Köpfe schüttelten und ihn zur Verantwortung zögen (…)

 

veröffentlicht in: Ort der Augen, Heft 3/98

 

 

Eine Legende

 

Im Frühling sind sie in das Dorf gekommen, die Aussaat war noch nicht beendet und die Männer gingen jeden Morgen aufs Feld.

Nein.

Die Alte, die sich zu erinnern weiß, stockt an dieser Stelle.

Dabei wissen es noch andere im Dorf.

Doch die schweigen. Die reden nicht. Die lächeln nur hin und wie­der, etwas müde zwar, doch geht über ihr Gesicht ein milder Schein.

Die, die es wissen, sind die Frauen.

 

Die Wahrheit ist, daß sie im Sommer gekommen sind (…)

 

veröffentlicht in: LITFASS, Heft 61/1994

 

 

Haare

 

Mein Friseur glaubt, dass ich langweilig bin. Er sagt das nicht, aber ich sehe das an seinem Blick, wenn er mir die Haare schneidet, die Spitzen, mein klatschnasses Haar mit weißen Fäden darin, die sich wirr aufstellen und hervorsprießen überall, wie kleine weiße Drähte, die ich nicht bändigen kann, zu den ungünstigsten Gelegenheiten kommen sie heraus und entstellen mich, immer, wenn ich schön sein will, und ich sitze vor dem Spiegel und betrachte mich, mein graues Gesicht mit den ersten Falten darin, meine Haare, die jetzt noch schlimmer aussehen als sonst, lange nasse Strähnen, die an der Kopfhaut kleben, als hätte ich noch nie einen Haarschnitt gehabt, ich gebe mir große Mühe, nicht in den Spiegel zu sehen, während mein Friseur hinter mir steht und sich nach der Musik bewegt, die aus den Lautsprechern dringt (…)

 

als Hörstück produziert durch den RBB, 2008

 

 

Pauls Leben und ich – ein Selbstporträt

 

veröffentlicht auf futura99phoenix.de, 14.03.2015

 

 

Quallen - Leseprobe

 

© Rahel von Wroblewsky, 1988

 

 

Späte Liebe

 

Ich habe ihn das erste Mal im Treppenhaus gesehen. Ich habe ihn gesehen und gedacht: „Wow, was für ein Mann!“, das ist mir vorher nie passiert, und noch während ich das dachte, musste ich über mich selber lächeln und war irgendwie verunsichert und verwirrt. Deshalb bin ich an ihm vorbeigestolpert und habe seinen lächelnden Blick nicht erwidert. Aber genau das war es gewesen, was mir zuerst an ihm aufgefallen ist: seine Augen, seine karamellfarbenen Augen, sein freundlicher verschmitzter Blick. Später hat er mir dasselbe gesagt. Dass ihm zuerst meine Augen aufgefallen sind, tus ojos, hat er gesagt, und hat protestiert, dass nicht ich ihn zuerst entdeckt hätte, sondern er mich. (…)

 

 veröffentlicht auf waldorfastoriaberlin.com, 2013

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