RAHEL VON WROBLEWSKY

Brieffreundschaften. Mein besonderer Freund

 

Seit dem Sommer habe ich einen Brieffreund, und seit ich einen Brieffreund habe, geht es mir gut.

Das letzte Mal, dass ich einen Brieffreund  hatte,  genauer gesagt – eine Brieffreundin -  ist beinahe 40 Jahre her. Ich war damals neun und ging in die 2. POS Anton Saefkow  im Ostberliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg. Meine Brieffreundin war eine sowjetische Brieffreundin und wohnte in Semipalatinsk. Oder in Rostow am Don. Genau weiß ich das nicht mehr, auch an ihren Namen kann ich mich nicht erinnern, aber unsere Brieffreundschaft währte auch nicht lang. Vielleicht lag das an meinen mangelnden Russisch-Kenntnissen oder an der Tatsache, dass sie auch noch Brieffreundschaften mit anderen Kindern pflegte, die sich um die deutsch-sowjetische Freundschaft mehr bemühten als ich, jedenfalls schlief unsere Brieffreundschaft irgendwann ein. (…)

 

veröffentlicht in: Das Magazin / Juni 2012

 

 

Das Geheimnis der Frauen. Ein Stadt-Land-Vergleich

 

Die Frauen auf dem Lande haben kurze Haare, weil das praktischer ist. Sie tragen einen Bürstenschnitt und bunte Wetterjacken und fahren am Morgen ihre Kinder auf dem Fahrrad durchs Dorf. Sie sind sehr sportlich, die Frauen auf dem Land. Sie fahren nicht nur ihre Kinder auf dem Fahrrad, sondern auch Weihnachtsbäume oder Einkaufskörbe, und niemals sieht man ihnen die Mühe dabei an. Überhaupt halten sie sich gerade, sehr aufrecht, sie bewahren immer die Haltung, sie sind irgendwie streng, irgendwie diszipliniert, nicht so offen, weich, nachlässig und konturenlos, aber auch nicht so zugänglich wie die Frauen in der Stadt. (...)

 

veröffentlicht in: Frankfurter Rundschau, 11.05.2001

 

 

Das Meer

 

Schon lange, bevor ich das Meer kennenlernte, habe ich mir das Meer vorgestellt, es war das Meer, das ich in der Werbung gesehen hatte, jeden Abend, kurz vor acht, wenn mein Stiefvater auf die Tagesschau wartete und auf das nachfolgende Abendprogramm, er ging in die Küche, holte zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank und stellte sie vor sich auf den Tisch, er rückte die Schale mit den Salzstangen zurecht, zog die Tischdecke gerade und setzte sich ächzend in seinen Fernsehsessel hinein, und wenn er in seinem Ses­sel versunken war, kam ich eilig in das Zimmer gelaufen, setzte mich neben ihn und starrte gebannt auf den Fernsehapparat, denn ich wußte, daß gleich das Meer erscheinen würde, wie jeden Abend, kurz vor acht, wenn mein Stiefvater mit seinen Vorbereitungen fertig war.

Es war ein wunderbares Meer. Endlose weiße Strände, von Palmen ge­säumt, schäumende glitzernde Wellen, die an das Ufer schlugen, darüber ein strahlendblauer Himmel, den man nicht lange ansehen konnte, denn sonst taten einem die Augen weh, und in der Ferne, auf schimmernden Klippen ein leuchtendweißes einsames Haus. Das war das Meer. Das war mein Meer, das Meer meiner Träume …

Ich kannte kein Meer, denn ich lebte in der DDR, einem kleinen Land, das von einer hohen Mauer umschlossen war (…)

 

© Rahel von Wroblewsky 1995

 

 

Der Geschirrspüler

 

Auf dem Land hat man einen Geschirrspüler, in der Stadt eher nicht. Jedenfalls kenne ich in der Stadt, aus der ich komme, niemanden, der einen Geschirrspüler besitzt. Auch ich besitze keinen, das sind noch die Stadtgewohnheiten, obwohl ich hier schon seit einigen Monaten ansässig bin, und manchmal kommen Leute vorbei und fragen mich mitleidig und interessiert: "Was, du hast keinen Geschirrspüler, ich dachte, daß Du einen besitzt?!" Oder sie sagen zu meinem Freund: "Aber Rahel müßte doch einen Geschirrspüler besitzen, so viele Leute, wie ihr jetzt seid!", und so, wie sie es sagen, merke ich, sie wollen mir etwas Gutes tun. (…)

 

© Rahel von Wroblewsky 2000

 

 

Die Angst beim Autofahren und beim Schreiben

 

Eigentlich fahre ich gerne Auto, nachts. Wenn man auf der Landstraße fährt, durch schlafende Dörfer hindurch, an Wiesen und Feldern vorbei, immer der kurvenreichen Straße nach, während der Scheinwerfer Stück für Stück aus der Dunkelheit schneidet und man nicht weiß, was kommt. Es kann etwas Gutes oder etwas Schlechtes sein, obwohl man beim Autofahren nachts eher vermuten könnte, daß es etwas Schlechtes ist, ein Tier z. B., das unverhofft die Straße überquert oder ein entgegenkommendes Auto, dessen Fahrer in der Kurve die Gewalt über seinen Wagen verliert und einem auf der eigenen Spur entgegenrast, oder ein Fußgänger, der betrunken aus einer Kneipe torkelt und plötzlich mitten auf der Fahrbahn stehenbleibt. (…)

 

© Rahel von Wroblewsky 2000

 

 

Die Freiheit der Tankstellen

 

Die Freiheit auf dem Lande ist die Freiheit der Tankstellen in der Nacht. Wenn man ein Abenteuer erleben will, muß man zu einer Tankstelle fahren, weil man ansonsten auf dem Lande niemanden trifft, jedenfalls nicht am Abend nach 18 Uhr, nachdem der einzige Laden im Dorf geschlossen hat, aber auch vorher trifft man nur Leute, die man kennt. (...)

 

veröffentlicht in: Frankfurter Rundschau, Februar 2000

 

 

Die Tussi. Die Geschichte eines Schimpfworts samt erstaunlicher Wendung

 

Tussi ist ein Wort, das von meiner Familie Besitz ergriffen hat. Mein Sohn sagt neuerdings „Tussi“ zu mir, wenn ich ihn ermahne, sein Zimmer aufzuräumen und ihn daran erinnere, dass er das das letzte Mal vor einem Monat tat - er zischt das Wort durch die Zähne, nicht laut, aber hörbar, wenn ich sein Zimmer gerade verlassen will, und jedes Mal muss ich mich umdrehen, zurückgehen und klarstellen, dass er dieses Wort nicht für seine Mutter verwenden darf.

Mein jüngerer Sohn kommt von der Schule nach Haus und erzählt genervt von den Tussis im Hort. Die haben beim Fußballspielen am Spielfeldrand gestanden und ihn angefeuert, was ihm furchtbar peinlich war, und auf meine vorsichtige Nachfrage erfahre ich, dass die Tussis Mädchen aus seiner Klasse sind. (…)

 

veröffentlicht in: Das Magazin / Juni 2010

 

 

Einführwinkel

 

Ich habe angefangen, mit meinen Freudinnen über Sex zu reden. Ich weiß, es klingt unglaubwürdig, dass ich erst mit 49 Jahren damit beginne, über erogene Zonen zu sprechen, über Orgasmen und darüber, was mir mit einem Mann am meisten Freude macht, aber tatsächlich war mir das noch vor zwei Jahren unangenehm. Ebenso wie meinen Freundinnen, aber auch vor zehn Jahren hatten wir noch nicht den Mut dazu, auch nicht vor dreißig, als wir noch junge Mädchen gewesen sind. Oder soll ich an dieser Stelle behaupten, es hat uns damals noch nicht interessiert?!

Über Sex reden macht Spaß. Es ist Sommer, wir sind in der Stadt geblieben, sitzen am Abend auf unserem Balkon, trinken ein Glas Rotwein, genießen die leichte Brise, die nach einem heißen Tag über unsere nackten Arme und Beine streicht, kichern über den alten Herrn Lowisch auf dem Balkon nebenan, der uns wie immer heimlich belauscht und glaubt, dass wir nicht bemerken, wie er sich ächzend hinter die Brüstung duckt. Soll er doch! Wir prusten, trinken noch einen Schluck und reden über Sex. (…)

 

© Rahel von Wroblewsky 2014

 

 

Ende einer Beziehung oder meine Nacht auf dem Balkon

 

Letzte Woche habe ich eine Nacht auf unserem Balkon verbracht. Nicht freiwillig, das möchte ich betonen, denn es war immer noch Winter und die Temperatur betrug abends um 10 immerhin nur 3 Grad, aber mir blieb nichts anderes übrig, als auf unserem Balkon zu übernachten – meine Tochter hatte mich ausgesperrt.

Wir haben einen schönen Balkon. Er gehört zu einer schönen Dachgeschoßwohnung in einem ruhigen Bezirk, luftig und hell, und unser Balkon ist durch eine große Glastür von unserem Wohnzimmer getrennt. An dieser Glastür befindet sich ein Griff, der nur von innen zu öffnen und zu schließen ist, eine merkwürdige Konstruktion, und manchmal kam mir schon der Gedanke, dass mich eines meiner Kinder aussperren könnte, wenn ich zum Rauchen hinausgehe auf den Balkon, wie es meine schlechte Gewohnheit ist, aber zum Glück ist es bis zur letzten Woche noch nicht geschehen.

Hinterher sagte mir meine Tochter, dass Grenzsituationen wichtige Lebenserfahrungen sind und sie hat Recht. (…)

 

veröffentlicht in: der Freitag, 8.2.2005; Über den Dächern der Stadt, Edition Ebersbach 2006

 

 

Gesetzmäßigkeiten des alltäglichen Lebens. Untauglicher Geheimcode

 

Ich glaube, dass unser Leben nach Gesetzen funktioniert. Natürlich meine ich damit nicht die Naturgesetze, die äußeren Gesetze, die niemand in Frage stellen wird, sondern eher etwas wie innere Gesetze, Gesetze, die nur bestimmte Personengruppen betreffen, wie es beispielsweise Eltern von Kleinkindern sind. Hier gibt es viele Gesetze, die leider immer gleich und unmittelbar wirken, z. B. dass ein Kleinkind erkrankt, wenn die Mutter eine wichtigen Text beenden muss oder mit einer Freundin vereinbart, am nächsten Dienstag ins Kino zu gehen. In diesem Fall erkrankt das Kind heftig und in jedem Fall sofort. (…)

 

veröffentlicht in: der Freitag, 11.4.2009

 

 

Herzhorn, Swerdlowsk. Vom Leben in der Heimat und in der Fremde

 

Heute waren wir bei Alinas Kindergeburtstag in Herzhorn. Alina haben wir vor drei Jahren kennengelernt, als wir von Berlin hierhergezogen sind und mein ältester Sohn geboren wurde, und seitdem treffen wir uns manchmal, Alina, Tjark, Line, mein Sohn Jon und wir, die entsprechenden Eltern dazu, und während die Kinder krabbelten und Bausteine besabberten, tranken wir Eltern Kaffee, aßen Kuchen und unterhielten uns nebenbei. Krabbelgruppe haben wir diese wöchentliche Veranstaltung genannt, bei der sich die Krabbelgruppenmütter mit Kuchenrezepten übertrumpften, aber inzwischen können unsere Kinder laufen und krabbeln nicht mehr, sondern spielen oben im Kinderzimmer und machen Krach.

Herzhorn liegt in Norddeutschland, mitten auf dem Land. (...)

 

veröffentlicht in: Frankfurter Rundschau, 25.05.2001

 

 

Hinterm Deich. Wo die Welt endet

 

Am Abend gehen die Leute auf den Deich. Der Deich ist ein Wall aus Sand, der dazu dient, dass man das Wasser dahinter nicht sieht. Man sieht nur das Grün und die Schafe obenauf, eine grüne Begrenzung, über der gleich der Himmel kommt, sonst weiter nichts, und am Abend verlassen die Leute ihre Reihenhäuser, gehen über die Grenze, steigen die Treppen zum Deich hinauf, der ihre Häuser vom Rest der Welt trennt, und blicken, oben angekommen, auf das Wasser und das übrige Land.

Der Deich ist die Grenze, am Deich endet die Welt. (...)

 

veröffentlicht in: Frankfurter Rundschau, 31.08.2001

 

 

In den Westen gehen

 

Heute habe ich Thomas gesehen. Ich habe Thomas siebzehn Jahre nicht gesehen und er hat mir nicht gefehlt. Woher denn auch, ich habe ja Thomas kaum gekannt.

Das letzte Mal habe ich Thomas bei einer Party in Ostberlin gesehen, doch nein, das stimmt nicht ganz. Jetzt, während ich darüber nachdenke, fällt mir ein, dass ich ihn damals zum ersten Mal traf. Es war bei einem Fasching in der Ostberliner Kunsthochschule, und es war ein wildes Fest. Ich kannte die Kunsthochschule kaum, ich hatte gerade mein Abitur gemacht, ich wusste noch nicht einmal, wo sie sich befand, und alleine hätte ich mich nie hingetraut, hätte eine Freundin mich nicht mitgeschleppt.

 

(…)

 

Wir haben damals manchmal ein Spiel gespielt. Das Spiel hieß „In den Westen gehen“, und wenn wir uns abends in unseren Hinterhauswohnungen trafen und in unseren winzigen Küchen hockten, haben wir zwischen unseren philosophischen Debatten zur Ablenkung darüber nachgedacht, „was würde aus dem und dem, würde er in den Westen gehen“. Es war die Zeit der Ausreiseanträge und der Westen war permanent präsent. (…)

 

© Rahel von Wroblewsky 2006

 

 

Mein Westler

 

Meine einzige Beziehung zu einem Westler war eine Katastrophe, und die Folgen hängen mir immer noch an.

Zuerst war der Westler noch aufregend, als die Mauer noch stand: selten gesichtete Objekte, Vertreter einer noch unbekannten Art – nur wenige von ihnen trauten sich damals in den düsteren Osten hinüber und die wenigen Mutigen wurden bestaunt. Manchmal traf man sie auch, auf einer Party im Prenzlauer Berg oder auf der Friedrichstraße, kurz vor ihrer Rückkehr in ein unbekanntes Land, wenn sie einem wohlwollend das verbliebene Ostgeld in die Hände drückten, das sie nicht mit zurücknehmen durften, aber gemeinhin behielt der Ostler, wenn er einen Westler kannte, dieses wertvolle Objekt ganz für sich.

So kam es, dass wir uns auf sie stürzten, als die Mauer sich versehentlich öffnete, und wir stürzten uns in die westliche Nacht (…)

 

veröffentlicht in: der Freitag, 7.3.2003

 

 

Nicht ohne meine Mütze. Notizen über die wichtigen Dinge

 

Früher hat es in meinem Leben einmal wichtige Dinge gegeben, da hatte ich noch nicht drei Kinder und lebte nicht in Norddeutschland auf dem Land, sondern in Berlin. Es gab damals viele wichtige Dinge in meinem Leben, vielleicht lag das daran, dass es in meinem Leben oft um mich gegangen ist und nicht um meine Kinder oder ihren Vater, die mir heutzutage gerne erklären, was in ihrem Leben wichtig ist und welche Rolle ich dabei spiele, und eines meiner früheren wichtigen Dinge, um darauf zurückzukommen, ist eine Mütze gewesen, die mich lange Jahre begleitet hat.

 

veröffentlicht in: Frankfurter Rundschau, 28.06.2002

 

 

Ostberliner Handys. Vom Dorf zur Metropole

 

Vor kurzem war ich in Berlin. Berlin ist anders als vor drei Jahren, als ich es verlassen habe, um in ein abgelegenes norddeutsches Dorf zu ziehen, und ich befürchte, ich fand mich mit den Veränderungen nicht zurecht. Zum Beispiel haben die Berliner Handys jetzt. Vorbei die Zeiten, als nur Zettelblocks an der Tür unserer Ostberliner Hinterhauswohnungen hingen, auf die man schreiben konnte: „Komme morgen um drei noch mal wieder!“ oder „Bring mal meinen roten Holzrahmen zu Tom!“, vorbei die Zeiten, als wir uns nach der Wende glücklich unsere neu erworbenen Telefonnummern mitteilten und jubelten, endlich hätten wir es geschafft. Dann kam die Zeit der Anrufbeantworter und ich verließ Berlin. Jetzt teilen diese Anrufbeantworter mir nur mit, dass meine Freundinnen abwesend sind, und wenn ich sie auf dem Handy zu erreichen versuche, sind sie gerade furchtbar gestresst.

 

veröffentlicht in: Frankfurter Rundschau, 15.06.2001

 

 

Schluss machen

 

Heute hat mein Freund mit mir Schluss gemacht. Einfach so. Nach 11 Jahren, 2 Monaten, 23 Tagen und 5 Minuten. Obwohl das nicht ganz stimmt. In den letzten Jahren haben wir schon öfter Schluss gemacht, 13 Mal mindestens, ich habe es nicht gezählt, und auch diesmal ging es mit dem Schluss machen nicht ganz leicht. Es war ein Telefongespräch zwischen Berlin und Phnom Penh. Mein Freund rief aus einem Internetcafé in Phnom Penh bei mir an, nachdem ich ihn am Morgen auf seinem kambodschanischen Handy angerufen und beschimpft hatte und er aber nur die Hälfte verstanden hat. Er ist aber ein solider Mensch und fühlte sich verpflichtet, sich auch den Rest der Beschimpfung anzuhören, deshalb rief er mich zurück und die Verbindung war zwar besser als zuvor, aber immer noch schlecht. Es war wie immer, wenn man zwischen zwei Erdteilen telefoniert, (…)

 

veröffentlicht in: Das Magazin / Mai 2008

 

 

Tempi passati. Wenn die Großstadt aus den Träumen verschwindet

 

Auf dem Land habe ich meine Uhr verloren. Zuerst meine Uhr, dann die Zeit und zuletzt meine Erinnerung. Es war Herbst, als ich die Stadt verließ. Ein kalter klebriger Herbst mit frühen Schneeschauern, und ich rutschte mit meinem Fahrrad durch den Schneematsch am Straßenrand, um meine letzten Erledigungen zu machen. An einem dieser Tage traf ich Frank. „Du willst auf das Land!“, fragt er, „Ausgerechnet du, du gehörst doch da nicht hin!“, und ich balancierte mein Fahrrad, das unter schweren Lasten fast umzukippen drohte, und antwortete ihm: „Doch nicht für immer, nur für ein Jahr, ein kurzer Ausflug, weiter nichts!“ (...)

 

veröffentlicht in: Frankfurter Rundschau, 11.01.2002

 

 

Tränen am Deich. Nachrichten aus einer abgelegenen Gegend

 

Ich lebe in einer Gegend, in der sich die Leute ins Auto setzen, wenn etwas passiert. Maria hat sich Weihnachten ins Auto gesetzt, als sie sich mit Rainer gestritten hat, und ist heulend davongebraust, hochschwanger wie sie war, und alle waren wir ganz still und betroffen hinterher, haben uns kaum getraut, etwas zu sagen, vor allem, nachdem auch noch der Weihnachtsbaum umge­fallen war, ganz von allein, kurz nachdem Maria die Tür zugeknallt hatte hinter sich und das Geräusch des aufheulenden Motors draußen verklungen war.

Ich habe mich heute ins Auto gesetzt. (...)

 

veröffentlicht in: Frankfurter Rundschau, 16.06.2000

 

 

Venceremos

 

In Berlin-Pankow gibt es viele alte Männer, die sehen wie Erich Honecker aus. Die gucken auch wie Erich Honecker. Obwohl ich weiß, dass Erich Honecker schon eine Weile tot ist, habe ich vor ihm immer noch Angst. Naja, vielleicht ist Angst das falsche Wort, aber eine Begegnung mit ihm ist mir noch immer unangenehm. So wie früher, als er noch Staatsratsvorsitzender der DDR gewesen ist und von den Bildern überall im Land auf uns heruntersah, mit seinem zusammengekniffenen Mund und seinem strengen Blick, dem nichts entging, und immer hatte ich bei diesen Begegnungen das Gefühl, ich hätte soeben etwas falsch gemacht. (…)

 

© Rahel von Wroblewsky 2014

 

 

Vor sich hin Summen

 

Kaum bin ich ein paar Tage allein, fange ich an zu summen. Genau eine Woche sind meine Söhne jetzt fort, in die Ferien gefahren mit ihren Freunden, und schon summe ich den ganzen Tag vor mich hin. Irgendwelche Lieder, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie kenne, jiddische Kinderlieder, Arbeiterkampflieder, Volkslieder, deren Herkunft ich nicht zuordnen kann, oder selbst ausgedachte Melodien, und ein wenig besorgt beobachte ich diese merkwürdigen Veränderungen an mir. Was wird als Nächstes geschehen? Werde ich lauthals zu singen anfangen oder beginnt das Stadium der Selbstgespräche, wenn ich noch länger alleine bin?

Als meine Großmutter siebzig wurde, hat sie angefangen, sich mit sich selbst zu unterhalten, und ich weiß noch, dass mir das als Kind immer unheimlich war. Aber vielleicht sind ja Selbstgespräche gar nicht so schlimm. Vielleicht braucht der Mensch eben einfach nur Gesellschaft und ist zufrieden, wenn er sich unterhalten kann. Sogar mit sich selbst. (…)

 

© Rahel von Wroblewsky 2009

 

 

Wohnhaft im ländlichen Ausland. Ein Umzug von Ost nach West oder: Warum nicht immer zusammengehört, was zusammenwächst

 

Ich bin umgezogen und wohne jetzt im Westen, das war bis 1989 Ausland für mich, und Jens, der im Westen aufgewachsen ist, sagt, daß der Osten für ihn Ausland ist, immer noch, er kennt die neuen Bundesländer nicht, müßte er ihre Namen nennen, müßte er passen, und außerdem war er immer noch nicht da. Ich wohne jetzt im Westen seit einem dreiviertel Jahr, vorher habe ich in Berlin gewohnt, im Osten, aber einen richtigen Osten gibt es dort auch nicht mehr, seit die Mauer geöffnet wurde, bröckelt der Osten und wird vom Westen durchsetzt, man kann das nicht mehr Osten nennen, dieses vom Westen unterwanderte Gebiet, aber immerhin war es ein Thema,  das jeden Tag mindestens einmal behandelt wurde, der Osten und im Gegensatz der Westen dazu, aber hier, im westlichen Ausland ist der Osten kein Thema mehr und ich bin mir noch immer nicht sicher, wie es mir dabei geht.

Auf jeden Fall ist der Osten sehr fern. (...)

 

veröffentlicht in: Frankfurter Rundschau, 24.11.2000

 

 

Wo ich einkaufe

 

Es ist eine billige Wahrheit und dennoch spricht man darüber nicht gern, zumindest kann ich mich nicht erinnern, mich je darüber unterhalten zu haben: wo jemand einkauft, daran kann man erkennen, wie sein Leben verläuft, man erkennt, wo und wie er lebt und mit wem er sich umgibt. Früher hätte ich das nicht vermutet, dass das Einkaufen eine solche Rolle spielt, aber inzwischen habe ich oft genug meinen Wohnort gewechselt, um zu wissen, dass jeder Einkaufsort eine bestimmte Phase eines Lebens repräsentiert. In welcher Phase ich mich jetzt befinde, weiß ich immer noch nicht genau (…)

 

veröffentlicht in: der Freitag / 27.9.2002

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